- Markus 9,24
Die Jahreslosung 2020
Auslegung der Jahreslosung 2020
Der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Es gibt Zeiten im Leben, in denen man an einer Schwelle steht und damit vor der Frage: Gehe ich durch diese Tür oder nicht? Es ist wie das Zögern beim ersten Sprung des Kindes vom Einmeterbrett im Schwimmbad. Traue ich mich zu springen oder nicht? Von außen betrachtet sagt man, es ist doch ganz einfach, es gibt nur ein „Ja oder Nein“. Entweder du springst oder du bleibst stehen. Aber so eindeutig sind die damit verbundenen Gedanken und Emotionen meist nicht. Natürlich gibt es Situationen, in denen man leicht, freudig und zuversichtlich entscheidet, die eindeutig sind. Zugleich gibt es Entscheidungen, die verbunden sind mit Zweifel, Angst, Verunsicherung.
„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Der Mann, der im Markusevangelium diese Worte spricht, ist ein Mensch in einer solch schwierigen Situation. Er steht an einer Schwelle. Sein Sohn ist krank, schwer krank, schon seit Kindertagen. Die Krankheit hat tödliche Macht über den Sohn. In seiner Sorge und Verzweiflung hat der Vater schon vieles versucht. Soeben erst ist eine Hoffnung erloschen. Die Jünger Jesu, an die er sich gewandt hatte, konnten seinen Sohn nicht heilen. Die Enttäuschung darüber ist mächtig. Da begegnet der Mann Jesus und damit der Frage: Wage ich, Jesus so zu vertrauen, so an ihn zu glauben, dass Heilung doch möglich ist? Oder wage ich es nicht?
Mit all diesen Gefühlen, Ängsten, Sorgen steht der Mann vor Jesus.
Er versteckt seine Zweifel nicht. Er verdrängt sie nicht. Sie sind ihm
auch nicht peinlich. Er spricht nicht so, als sei alles in Ordnung. Die
Zweifel, der Unglaube, sie sind keine bewusste Verweigerung des Glaubens
oder gar eine intellektuelle Distanzierung. Sie sind eine Reaktion
aufgrund einer schweren Erfahrung: die Erkenntnis: Mein eigener Glaube
ist angefochten.
Dennoch wagt er den Schritt über die Schwelle. Der Vater bittet Jesus,
das Kind zu heilen. Er bittet ihn um Erbarmen für seine ganze Familie:
„Hilf meinem Sohn, indem du dich unserer erbarmst!“ Dieser Mann wirft
Christus seine ganze existentielle Not vor die Füße.
Der Vater wagt den Sprung in den Glauben, obwohl er zweifelt. Er vertraut, obwohl er unsicher ist. Er glaubt, obwohl ungläubige Gedanken und Gefühle an ihm zerren. Dieses Obwohl ist der Mut des Glaubens. Der Mut zum Sein. Der Mut, sein Leben Gott anzuvertrauen.

Der Künstler Andreas Felger hat diese beiden Erfahrungen des
Glaubens in seinem Bild zur Jahreslosung farbig dargestellt. Die
gegensätzlichen existentiellen Erfahrungen eines Menschen, der tief
glaubt und zugleich Anfechtungen kennt, sind in den unterschiedlichen
Farbschattierungen der blauen und der gelben Seite erkennbar. Dazwischen
liegt ein lichter Strahl. Licht, das die so unterschiedlichen
Erfahrungen verbindet, Licht, das beides durchleuchtet, in beidem
präsent ist. Die Gegenwart Christi, sein Licht, seine Liebe, die beide
Seiten der menschlichen Existenz umfassen, die Freude ebenso wie den
Schmerz. Glaube hat immer ein Gegenüber. Immer ist der gegenwärtig und
ansprechbar, der auf den Ruf „Erbarme dich unser“ antwortet.
Eine sehr natürliche und menschliche Reaktion mit Leid, mit
Enttäuschungen, mit Ohnmacht, mit Schmerz umzugehen, ist der Versuch,
diese Erfahrungen zu kontrollieren, zu verdrängen oder zu leugnen. Der
Glaube jedoch ermutigt uns dazu, auch diese Erfahrungen auszuhalten. Sie
Christus hinzuhalten, ihn um sein Erbarmen zu bitten und auf seinen Weg
der Heilung zu vertrauen, auch wenn dieser Weg nicht mit unseren
Erwartungen zusammenpasst.
Die Geschichte aus dem Markusevangelium wird als eine Wundergeschichte
erzählt. Jesus heilt den kranken Sohn. Die Hoffnung, die Erwartung des
Vaters wird erfüllt. Ein Wunder, an das keiner mehr glaubte, am
wenigsten der Vater. Dafür, dass ein solches Wunder passiert, haben wir
keine Garantie. Auch wenn wir den Sprung wagen, auch wenn wir voller
Vertrauen Entscheidungen treffen, wissen wir nie, ob sie heilsam sind
oder schmerzhaft enden.
Die Jahreslosung ist somit keine Garantie auf Wunscherfüllung. Wie es
auch beim Gebet niemals um eine Wunscherfüllung geht. Aber die Kraft,
ganz auf Gott zu vertrauen, die Bitte um sein Erbarmen verändert das
Leben. Diese Kraft hilft uns, unsere ganze Existenz in Gottes Hand zu
legen. Sie ermöglicht uns, dass wir unser Leid, unseren Schmerz, unsere
Enttäuschungen nicht auf andere Menschen projizieren müssen, dass wir
uns selbst nicht dafür strafen müssen. Diese Kraft ermöglicht uns,
barmherzig mit uns selbst und mit anderen zu sein, weil Gott mit uns
barmherzig ist und weil wir sein Erbarmen erbitten können.
Die Glaubensväter und Glaubensmütter kannten diese heilende Kraft der
Bitte und des Gebetes. Bis heute erfahren Christen und Christinnen diese
Kraft im täglichen Gebet. „Erbarme dich unser. Ich glaube; hilf meinem
Unglauben!“ Manchmal braucht es nicht mehr, als dass wir einstimmen in
diesen Ruf des Vaters des kranken Sohnes, damit wir Kraft und Mut für
unser Leben bekommen. Diese Kraft und diesen Mut wünsche ich uns allen
für dieses Jahr.